Der Titel des Projekts beziehungsweise die Absicht der Kapelle könnte lauten: Gott loben im Spiel. Das stand anfänglich direkt auf der schwarzen Seite. Aber es waren schon zu viele Worte.

Die Idee ist, zwei "Elemente der Wirklichkeit" nebeneinander zu stellen, zueinander zu bringen, zusammen zu setzen (was nicht dasselbe ist wie "zusammenzusetzen") und zu erproben, wie das Ensemble wirkt.

Ein Titel legte dann viel zu sehr und jedenfalls zu früh fest.

Allerdings entstand die Idee zu diesem Projekt unter anderem tatsächlich aus einer besonderen Konzeption von "Lob Gottes". Ich fand sie in dem Roman Das Buch des Feuers von Alla Avilova.

Darin ist die Rede vom heiligen Buch eines orthodoxen Mönchsorden, den Kenergeten, vermutlich benannt nach einer Verballhornung des griechischen Begriffs Energeia, der weiter gemeint ist als unsere "Energie" und eher mit dem indischen Prana oder Kundalini vergleichbar wäre. Gott war für die Kenergeten in der Energeia wirksam, die jedoch nicht nur Seinem Gesetz folgt, sondern sich auch dem freien Spiel hingibt, das wir irrtümlich "Willkür des Zufalls" nennen, nicht mögen und also das Spiel selbst nicht. Die Energeia aber durchdringt alles. Gott ist in der Vielfalt der Welt und des Spiels.

Es heißt auf Seite 117: "Wie man das Verborgene darstellt - als Licht oder Finsternis, als Leere oder von Geistern bewohnte Welt - und welche Vorstellung man sich von Gott macht, hielten die Kenergeten für zweitrangig. Wichtig war ihnen nur, daß die Bilder in der Tiefe der Seele eine Reaktion auslösten, so daß man hierdurch seine Teilhabe am Ewigen Leben erkannte. Die religiöse Freiheit der Kenergeten leitete sich vom Geheimnis des Göttlichen Gleichmuts ab. Dem Herrn ist es gleichgültig, wer ihn darstellt und wie. Die Vielfalt der Bilder, die man sich von ihm macht, ist Teil der Vielfalt der Welt. Jede lebendige Seele steuert eine neue Einzelheit über den Schöpfer bei und kennt ihn auf ihre Weise."

Dieses Buch las ich, während ich im August 2002 die documenta 11 in Kassel besuchte. Ich hatte das Buch zwei Tage vor der Reise antiquarisch für einen Euro erworben: ein Spontankauf. So kamen ungeplant die Rede von der Vielfalt und die Bilder und Installationen in Kassel zusammen.

Es gab dort einen schwarzen Raum mit zwei großen Videoleinwänden. Einige Meter davor ein breiter Tisch mit zwei einfachen Spielkonsolen. Auf den Leinwänden, die als Monitore fungierten, war ein Computerballerspiel der gnadenlosen Sorte aktivierbar. Die virtuelle Kamera in Kopfposition der (beiden gleichzeitig für je eine Leinwand möglichen) Spieler raste durch ein Sf-Ambiente von Plattform- und Raumkonstruktionen in einer schwarzen Leere, an die sich gelegentlich Schiffe annäherten, und lautstark und farbtriefend zerfetzten die Gegner unter den Schüssen aus den Joysticks.

Element der Installation sollte sein, daß die Kontrolle der Spieler keine wahrhafte war, sondern daß es unberechenbare Eingriffe gab, durch die Software oder den Künstler selbst (es schien auch jeweils eine Internet-Verbindung hergestellt zu werden). Es ging, wenn ich mich recht entsinne, um die Zelebrierung - und Illusion von Kontrolle.

Ich spielte nicht selbst. Mir widerfuhr jedoch, daß ich mich an einer der hinteren Wände des schwarzen Raums auf den Boden setzte und mich dem rasenden Kampf vor mir ergab. Etwas fesselte mich. Ich kenne solche Spiele, spiele sie jedoch nicht. Ich finde sie meist bescheuert, verachte sie aber nicht. Es gibt eine Faszination an ihnen, die ich nicht verleugnen kann.

(Noch faszinierender erscheinen mir, nebenbei, die real durchgeführten Farbball-"Geländespiele". Ich frage mich manchmal, ob sie eine Möglichkeit zukünftiger Kriegführung wären. Solche Gedanken mobilisierte übrigens vor vielen Jahren Ernest Callenbachs Roman Ökotopia aus dem Jahr 1975, in dem - damals keinesfalls unumstritten - im utopischen Kalifornien des Jahres 2000 Aggression ein Ventil in Form ritualisierter Gruppenkämpfe mit Prügeleien bis hin zum Einsatz von Stöcken gegeben wurde. Wenn ich mich recht erinnere. Wie das so ist. Das ist meine Erinnerung.)

Ich registrierte mit der Zeit, daß ich in dieser Faszination nicht allein war. Zahlreiche Besucher des Raums verweilten auffallend lange, ohne daß sie versuchten, die gerade an den Konsolen aktiven Spieler abzulösen. Da ich bei zahlreichen Installationen der documenta ziemlich lange blieb, kann ich sagen, daß diese Zuschauer über den Daumen gepeilt deutlich länger blieben als anderswo, wo neben den Langzeitlern wie mir meist ein ständiges Kommen und Gehen in den Räumen war: kurz reingucken, irgend nicht sofort etwas mit dem Moment der Installation oder des Films oder der Diaprojektion anfangen können - und wieder hinausstreifen...

Hier, in diesem Raum, in dieser schwarzen Kommandozentrale eines Raumschiffs, als der er mir immer mehr vorkam, herrschte unter den Anwesenden eine seltsame Aufmerksamkeit. Ich hörte eigentlich niemand fragende oder abfällige Bemerkungen machen, oder auch nur diesen Tonfall in halb gehörten Satzfetzen: na ja...

Die meisten jedenfalls waren gebannt.

Nicht wenig, vermute ich, verdankte diese Atmosphäre der schieren Größe der Leinwände. Auf üblichen Spielmonitoren kann solche Dynamik nicht derart ausstrahlen. Dann gab es nichts außer den Leinwänden und dem Konsolentisch und den hinter diesen stehenden Spielern. Und die Schwärze des Raums.

Ich kann nicht sagen, daß ich unmittelbar eine sakrale Atmosphäre empfand, aber nachträglich kam sie: durch die Farbe, durch das Stehen der Spieler. Ein Zelebrieren von etwas wurde so viel mehr nahegelegt, als hätten die Spieler (wie üblich) gesessen, als wäre der Raum hell gewesen. Während ich in dem Raum saß, überwog demgegenüber eine Art Strenge, ein Ernst des Handelns der Spieler, was wiederum wesentlich durch das ruhige Stehen der Spieler, Kommandanten eines schweren Kampfschiffes während der Arbeit, und die Ruhe der weiteren Zuschauer, wir alle umgeben vom infernalischen Lärm der Kampfhandlungen vor unseren Augen, befördert wurde.

Ich weiß nicht, ob der Künstler all diese Wirkungen überhaupt beabsichtigt hatte. Ich kriegte sie jedenfalls ab.

Ein Drittes will ich nur andeuten. Ich diskutiere das Thema "Gewalt in den Medien" schon länger; da ich an einer Uni über Comics lehre, vor allem in diesem Kontext. Knapp formuliert bin ich der Auffassung, in der Darstellung von Gewalt manifestiert sich viel weniger ein Training für zukünftige Realausbrüche als ein Regelverstoß in kontrolliertem und kontrollierbarem Umfeld als Teil einer Auseinandersetzung mit der Welt, ob bewußt oder nur teilbewußt. (Die berichtenden Medien stellen demgegenüber in ihrem Subtext viel mehr die Unkontrollierbarkeit der Welt durch Gewalt heraus, was man durchaus als problematischer ansehen kann!)

Gleichzeitig, denke ich, drücken sich in solcher medialen Repräsentation von Gewalt tabuisierte und vernachlässigte Realia der Welt aus, sprich: die Abdrängung von Aggression, ihre Negativierung in den berichtenden Medien, ohne sich auch dem Positiven oder Wertvollen von Aggression zu stellen, führt dazu, daß sie irgendwo "anderen" Raum des Ausdrucks suchen muß und findet: in der in solchen Fällen komplizierter gesellschaftlicher Phänomene üblichen Paradoxie durchaus in einer anderen gesellschaftlichen Sphäre großer Bedeutung, nämlich der Ökonomie: mit diesen gewaltorientierten Spielen läßt sich massiv Geld verdienen.

Boshaft ausgedrückt die Konsequenz aus dem Gedankengang (nicht die vollständige Wahrheit!): die Ökonomie schützt die Aggression vor ihrer allzu weitgehenden Abdrängung - die, so betrachtet, dann nur noch den direkten Ausdruck finden könnte.

Mag sein, daß man diese Überlegungen als gewisse Formulierung der Katharsis-Theorie bezeichnen könnte. Mir blieb die Herausforderung, die sich aus den sich treffenden Bausteinen meiner Beschäftigung in Kassel ergab: das Bild einer Begegnung eines Gottes, der in der Vielfalt zu preisen ist - und einem Teil dieser Vielfalt: dem leidenschaftlichen Hingegebensein an Computerspiele.

Hätte ich das Geld, würde ich diese Kapelle einrichten: ein PC, ein Platz für einen Spieler, keine sonstigen Bänke: ein Ort, um mit Gott alleine zu sein.

Wie kann man im Angesicht des Kreuzes auch noch virtuellen Gewaltorgien frönen?

Mich interessiert diese Frage nach einem statischen Zustand nicht, sondern die nach einer Dynamik, einer Entwicklung: was wird geschehen, wenn der Spieler im Angesicht des Kreuzes (und der Liedzeile von Jochen Klepper) spielt?

Ich kann im Augenblick nur meine eigene Netzseite betrachten.

Ich kann nicht umhin, vorläufig festzustellen, daß die Verbindung zu funktionieren scheint.





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